Ulf Nawrots
wunderbare
Post-It-Welt

Eine Telefonnummer. Ein Name. Ein Wort, ein Stichwort. Wie das Wort „Vignette“, das im Französischen so viel bedeutet wie „Randverzierung“.  Von den Endpunkten der Buchstaben sind, in einem dezent anderen Farbton, Linien gezogen, die nach schräg hinten verweisen und das Wort somit dynamisieren. Unter „Vignette“ stehen weitere Wörter: „Kneipenbild“, „neue Fax-Nr. kommt“. Mit dem Kugelschreiber geschrieben, waren sie vermutlich zuerst auf dem Papier. Gerahmt werden die Schriften von schwungvollen Bögen, sowohl mit Kugelschreiber gezogen als auch mit verschiedenen Buntstiften. Sie verflüssigen die Ordnung der geschriebenen Zeilen und weisen zugleich über das Blatt hinaus. In einer Weise steht das Beschriebene beispielhaft für die Arbeiten, die Ulf Nawrot seit 30 Jahren produziert und akribisch sammelt, in chronologischer Reihenfolge ihres Entstehens.

Oft sind Notizen der beschriebenen Art Ausgangspunkt, Rahmen, Grundlagen dieser Arbeiten. Mal ganz direkt, wie im oben genannten Beispiel, mal verborgener, weil übermalt oder an sich dem Außenstehenden unverständlich, und immer wieder auch – zumindest scheinbar – losgelöst von der Alltäglichkeit. 

Der zeitliche Rahmen allein ist beeindruckend, und noch mehr vielleicht die schiere Menge der in dieser Zeit entstandenen Einzelstücke. Dabei ist der Stoff, auf dem diese kleine Kunst stattfindet, gerade einmal doppelt so alt. Und auf den ersten Blick regelrecht profan: 1974 experimentierte ein gewisser Art Fry mit einer Klebemasse, mit der er kleine Zettel bestrich. So hafteten diese auf anderem Papier, aber auch auf glatten Flächen verschiedener Natur. Das Post-it war geboren. 

Nicht, dass Ulf Nawrot nun der erste wäre, der auf die Idee kam, damit Kunst zu machen. Bisher ging es dabei allerdings viel eher um Kunst mit Post-its, nicht auf ihnen. Bei Nawrot ist das Post-it nun Grundlage und Format einer Art visuellen Tagebuchs geworden. Dessen Fortsetzung sich zwar in Nawrots Atelier wiederfinden mag, vielleicht auch in einem seiner Skizzenbücher und dann – wer weiß – womöglich in einer der grafischen Arbeiten, die Nawrot beruflich herstellt, wie auch immer transformiert, abstrahiert, konkretisiert. 

Aber das ist nur eine Seite der Sache, und nicht unbedingt die Entscheidende. In zweierlei Weise haben sich die bearbeiteten Zettel nämlich von ihrem ursprünglichen Zweck emanzipiert, just so, wie die Linien auf dem eingangs beschriebenen Post-it, über die schlichten Notizen hinausweisen. Zum einen ist Nawrot sich ihres spezifischen Formats bald bewusst geworden, was seinen Niederschlag natürlich auch in der permanenten Arbeit an und mit ihnen finden muss. So scheint sich der Anlass für die Arbeit an diesem Kontinuum von umspielten praktischen Notizen hin zu eher emotionalen Kontexten zu verlagern. Das Medium ist mehr und anderes als Erinnerungsstütze geworden. Es ist zu seiner eigenen Form geworden. 

Die Post-it-Arbeiten verselbstständigen sich aber zugleich auch zu einem größeren Gewebe, einem Kontinuum, in dem das einzelne Stück seinen Charakter behält, aber auch in seinem Kontext lesbar wird; als Facette von Stimmungen, Themenfeldern, Stilexegesen beispielsweise. Man mag hier an eine Art „Ecriture automatique“ denken. André Breton, der große Surrealist, verstand darunter „einen so schnell wie möglich fließenden Monolog, über den der kritische Verstand des Subjekts kein Urteil fällt, der sich infolgedessen keinerlei Verschweigung auferlegt und genauso wie gesprochenes Denken ist“. Insofern lässt sich das Gesamte als eine Art grafischer abstrakter Roman lesen, der zu einer geradezu unerschöpflichen Lektüre einlädt, die reizvolle Spekulationen erlaubt, gerade durch die chronologische Reihung. Lag da ein Schatten auf dem Gemüt in jenen Monaten? Ist die fast fröhlich-psychedelische Farbigkeit der Versuch, zu harmonisieren, was in Wirklichkeit gerade nicht harmonisch ist? Als „gezeichnetes Denken“ findet es seine eigenen Begrifflichkeiten, seinen eigenen Rhythmus. 

Es ist nicht zuletzt deswegen wohl mindestens so sehr Roman wie Tagebuch, weil die Rückkopplungen zur Realität, von denen wir ausgehen müssen, nie so explizit sind, wie sie vielleicht scheinen mögen. 

Denn diese Entwicklungslinien finden ihren Gegenpart und Wiederhall auf einer technischen Ebene, die sich ebenfalls in permanenter Bewegung befindet. Experiment und zeitweilige Spezialisierung sind zu beobachten, die Arbeit mit verschiedenen Techniken wie Zeichnung, Filzstift-Aquarell, Collage. Zitate aus der Popkultur (so zum Beispiel eine Liste mit Songtiteln der Punk-Band Ramones) finden sich wieder wie Referenzen auf die bildende Kunst, auf die Art Brut von Jean Dubuffet, auf die Frottagen und Collagen Max Ernsts oder der Cartoon-Strich von Saul Steinberg – erklärtermaßen wichtige Einflüsse Nawrots. 

Aus dem Nebenher entsteht so etwas durchaus eigenes:
ein faszinierendes, schillerndes Gesamtkunstwerk.

Gezeichnetes Denken

Ulf Nawrot lebt und arbeitet in Bremen als Designer, Illustrator und Dozent. Alle Post-Its entstehen seit 1990 während anderer Tätigkeiten, changierend zwischen klassischer Notiz, Tagebuch und Mindmap. Zur Zeit sind ca. 40.000 Post-Its chronologisiert, täglich kommen neue hinzu.